Russland vier Jahre vor Sotschi 2014 am Tiefpunkt

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Dem "Versagen von Vancouver" sollen für die Sport-Großmacht Russland die "Siege von Sotschi" folgen: Nach den enttäuschendsten Olympischen Winterspielen seiner Geschichte in Kanada will das Riesenreich bei den Heim-Spielen 2014 in die Elite zurückkehren. Mindestens 11,4 Milliarden Euro lässt sich Russland seine erste olympische Veranstalterrolle seit den Sommerspielen 1980 in Moskau kosten.

Gut 30 Jahre später trüben sportliche Enttäuschungen, Medienberichte über Zwangsenteignungen und Naturzerstörung noch die Vorfreude auf die Wettkämpfe in dem Kurort am Schwarzen Meer. Kopfschmerzen bereitet der geschockten Sportnation Russland zudem die Furcht vor einer sportlichen Pleite in Sotschi.

In Vancouver holten russische Sportler nur drei Goldmedaillen, bisher waren fünf in Salt Lake City 2002 der Tiefpunkt. Der Griff nach Gold im Eishockey endete in einer Blamage, statt Prestigesieg über Kanada setzte es im Viertelfinale eine 3:7-Abfuhr.

Nichts mehr war zu sehen von der einstigen Dominanz. Die Sowjetunion nahm 1956 in Cortina erstmals an Winterspielen teil, bis zum Zerfall des Riesenreichs gewannen sie bei neun Winterspielen siebenmal die Medaillenwertung. Auch noch 1994 in Lillehammer, als Russland erstmals als eigenständiger Staat auftrat, gab es Platz eins.

Die erfolgreichste Eiskunstläuferin aller Zeiten, Irina Rodina, beklagt daher wohl nicht zu Unrecht, mit der Sowjetunion seien 1991 auch die gesamte Nachwuchsarbeit sowie der Respekt vieler Sportler vor dem fast militärischen Drill ihrer Trainer untergegangen. "Vier Jahre bis Sotschi sind zu wenig, um alle Fehler des Postkommunismus zu beseitigen", sagte die 60 Jahre alte, mehrfache Olympiasiegerin . Einige Medien begründen den Leistungsknick mit einem angeblich schärferen Anti-Doping-Kurs. Elf Dopingfälle im russischen Biathlon und Ski-Langlauf binnen zwölf Monaten könnten Indiz dafür sein.

Bei den vergleichsweise jungen olympischen Sportarten wie Freestyle oder Short Track spielt das Riesenreich noch keine Rolle. Gleichzeitig ist aber auch von der einstigen Vorherrschaft in "klassischen" Wintersportarten wenig geblieben. Personelle Konsequenzen werden nach der zweiten großen sportlichen Enttäuschung nach dem Scheitern der Fußball-Nationalmannschaft in der WM-Qualifikation nicht ausgeschlossen. Regierungschef Wladimir Putin kündigte bereits eine "scharfe Analyse" der Spiele in Vancouver an und drohte mit Konsequenzen. "Wir müssen die Bedingungen für unseren Auftritt in Sotschi schaffen", erklärte Putin kämpferisch.

In Vancouver war Sotschi schon ziemlich präsent. Eine Delegation unter OK-Chef Dmitri Tschernyschenko machte sich vor Ort ein Bild, im Science World Dome war eine "Sotschi World" entstanden, die 90.000 Interessierte besuchten. Sotschi macht international mit Spielen der kurzen Distanzen und Schneesicherheit Werbung. In einem Olympic Park in der Stadt am Schwarzen Meer werden die meisten Austragungsstätten in Gehdistanz sein, die Schnee-Bewerbe werden in Krasnaja Poljana, rund 40 km entfernt, ausgetragen. Von Whistler nach Vancouver ging es über 125 km.

Während es im subtropischen Sotschi zu "Winterspielen unter Palmen" kommen wird, sollten die Schneebewerbe keine Probleme bereiten. Denn Krasnaja Poljana liegt auf 2.250 m Höhe. "Wir haben einen Natur-Vorteil. Wir sind von der Geografie bevorzugt. Wir werden keine Schneedepots anlegen, zudem können wir künstlichen Schnee produzieren", erklärte Tschernyschenko.

Auch in der Heimat wird Werbung gemacht. "Sotschi, das sind auch meine Spiele", heißt es auf einer aktuellen Plakatkampagne, die das Porträtfoto eines "typischen Russen" zeigen soll und das Nationale Olympische Komitee (NOK) Russlands landesweit kleben ließ. Viele Betroffene sehen das nicht so. Etwa 1.000 Familien verlieren nach Angaben von Vizeregierungschef Dmitri Kosak wegen der Winterspiele ihr Heim und sollen "umgesiedelt" werden.

Weil fast alle Sportstätten samt Infrastruktur wie Bahnschienen und Straßen neu gebaut werden müssen, sind besonders viele Menschen von der Zwangsenteignung betroffen. Experten rechnen mit Gesamtkosten von mehreren Milliarden, damit Sotschi und die Umgebung olympiareif werden. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hatte Russland wiederholt zur Eile angetrieben, weil die Organisatoren mit dem Bau vieler Sportstätten im Verzug sind. Bei einem Besuch in Sotschi räumte Kremlchef Dmitri Medwedew jüngst Versäumnisse ein. Allerdings würden im laufenden Jahr etwa 30.000 Arbeiter in der Region weitere Pisten, Loipen und Straßen bauen, kündigte der Präsident an. Im September 2012 schließe man "alle Arbeiten ab".

Moskauer Medien warnen angesichts der "Bauwut" vor dem Beispiel Lillehammer. Seit den Winterspielen 1994 steht in der norwegischen Stadt ein 15.000-Zuschauer-Eisstadion meist leer. Das russische NOK will daher drei der geplanten sechs Arenen in Sotschi nach den Spielen ab- und in anderen Städten wieder aufbauen. "Damit vermeiden wir Bauruinen", sagt Sotschis Planungschef Dmitri Tschernyschenko.

Umweltschützer fürchten dagegen nicht wieder gutzumachende Schäden in der Kaukasusregion. Erst vor kurzem kündigte die Organisation World Wide Fund for Nature (WWF) aus Protest ihre Zusammenarbeit mit der staatlichen Baufirma Olimpstroi. Die Umweltschützer beklagen, dass das Unternehmen die Vorschläge für die Einhaltung des Naturschutzes zum Beispiel im Kaukasischen Biosphärenreservat missachte. Zudem würden Kontrollen verhindert, sagt Russlands WWF-Chef Igor Tschestin. Für den Bau von Straßen und Bahntrassen seien bereits einzigartige Wälder zerstört worden. Auch die Umweltorganisation Greenpeace beklagte wiederholt die Eingriffe.

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